7 Sterne                       29.12.2022

 

Die Gefahren durch Sturm und durch Windstille

 

"Das versetzte mir einen seelischen Schock, aber ich hatte weder die Lust noch das Herz, noch die Kraft für einen Streit. Meine Form von Krankheit war die Gleichgültigkeit. Die schleichende Lähmung durch eine hoffnungslose Lage. Daher starrte ich ihn bloß an." Seite 128 (treffende Worte für Gefühlsbeschreibungen)

 

"Mr. Burn, der mit dem Audruck heimlicher Entschlossenheit immer noch das Bett hütete, geruhte, sich grummelnd über allerlei Dinge zu beschweren." Seite 139 (sogar mit Witz)


10 Sterne                       18.12.2022

 

"In der Dunkelheit ist der Mensch allein. Das ist ehrlich, das ist, was er ist. Die Dunkelheit will nichts, sie ist Stille, sie ist Frieden, sie ist Trost." Seite 75

 

Ist das so? Trotzdem, eine absolute Leseempfehlung ...

 

"Ida hat ihr ins Ohr geflüstert, dass sie an ihrem Geburtstag mit ihr auf Hollerbusch durch Kyjiw reiten wird, und Olga hat dieses Wissen in sich eingeschlossen wie einen Schatz, und immer, wenn sie Ida ansieht, ist es, als öffne sich die Schatzkiste ein wenig." Seite 165


8 Sterne                       03.12.2022

 

Tolles Cover! Die Augen der Krähe gehen bis ins Gewissen.

 

"War es möglich, dass das Beste in ihm zum Vorschein kam, an die Oberfläche drang? Ein Teil von ihm, wie immer man ihn nennen wollte - gab es überhaupt einen Namen dafür? - geriet außer Rand und Band, das wusste er. Tatsache war, dass er dafür bezahlen würde, doch ein vergleichbares Glück hatte er in seinem ganzen unscheinbaren Leben noch nicht erlebt, nicht einmal, als seine kleinen Mädchen zum ersten Mal in seine Arme gelegt worden waren und er ihre gesunden, hartnäckigen Schreie gehört hatte." Seite 64


10 Sterne                       17.11.2022

 

"Die Sonne war inzwischen untergegangen, hatte den blauen Himmel hinter sich herabgezogen und in die letzte Lichtspalte am Horizont dünne Wolken gestreut." Seite 232

 

Herrlich, eine Geschichte mit vielen kleinen Geschichten in unterschiedlichen Zeitebenen und mit vielschichtigen Erinnerungen ...

"Nur ein einziges Foto von ihr ist erhalten. Darauf steht Mutter Vera, eine strenge Frau in ihren mittleren Jahren, an der Ecke eines Hauses, hinter dem ein von Bäumen strotzender Obstgarten sanft abwärts aus dem Blickfeld schwingt. Ihre vor dem Körper verschränkten Hände sind die einer Arbeiterin; ihr Blick scheint auszudrücken, dass der Fotograf ihr Geld schuldet." Seite 91


4 Sterne                       13.11.2022

 

"Vielleicht wissen Sie ja, dass man beim stillen Lesen die Buchstabenlaute in einer nicht wahrnehmbaren Frequenz aussendet. Eine Lektüre ist also nie stumm, denn die Stimme ist immer ganz leise beteiligt." Seite 52

 

Ein Buch ist ein Buch und nichts mehr. Was zählt, ist der Inhalt, die Geschichte, der Hintergrund, der Ton, die Sprache, die Magie, die Atmossphäre, die Spannung und Ruhe, die Gefühle, das Sehen und Verstehen der Protagonisten. Die Summe aller aufgezählten Dinge hilft uns durch den Alltag, durchs Leben und lässt die Vorfreude auf das, was noch vor uns liegt, wachsen.


8 Sterne                       10.11.2022

 

"Für mich ist nur ein leerer Käfig ein guter Käfig." Lawrence Anthony

 

Wie geht das? Ein derart aufregendes Leben zu führen und sich dann noch hinzusetzen und darüber ein Buch zu schreiben.

 

"Eines Tages verpasste ich meinen Flug nach Hause. Währenddessen war in Thula Thula, 400 Meilen entfernt, die Herde gerade auf dem Weg zum Haus, um mich zu begrüßen als sie, so erzählte man mir später, plötzlich anhielten, kehrtmachten und wieder in den Busch verschwanden. Wir rechneten später aus, dass dies genau zu der Zeit passierte, als ich den Flug verpasste. Bei meiner Rückkehr am nächsten Tag waren sie dann wieder alle am Haus versammelt." Seite 166

 

"Elefanten senden durch einzigartige Magengeräusche Infraschall-Schwingungen aus, die über weite Strecken wahrnehmbar sind. Diese ultraniedrigen Frequenzen, die wir Menschen nicht hören können, schwingen mit ähnlichen Wellenlängen wie jene, die von Walen übermittelt werden; Vibrationen, die, so glauben manche Experten, permament über den gesamten Globus wabern." Seite 167


6 Sterne                       04.11.2022

 

Zwiespalt

 

Ich bin froh, dass ich es gelesen habe. Ich bin nicht froh, dass ich es gelesen habe. Ich bin froh, dass ich es gelesen habe. ...

Das Buch wurde im Schweizer Literaturclub sehr gelobt. Daher habe ich es mir vorgenommen und bin froh. Allerdings ist es kein "Wohlfühlbuch".

 

"Aber es war nicht nur das, was ihn nicht schlafen ließ. Es war auch die Freiheit. Die Entscheidungen, die sie forderte. Die Unruhe. Freiheit war ein Wimmelbild. Zu viele Menschen, zu viele Rhythmen, Wege, Hindernisse. Menschen, die nach ihren eigenen Gewohnheiten aufwachten und schlafen gingen." Seite 393


10 Sterne                       29.10.2022

 

"Zwischen ihr und mir geht es immer um Worte." Seite 21

 

"Annie Ernaux hat einen Brief an ihre Schwester geschrieben, die sie nicht hat kennenlernen können - einen Brief von überwältigender Klarheit und zarter Traurigkeit, über Trennendes und Gemeinsames, über Kindheit und Geschichte und über Schicksalsschläge, die eine Familie auf immer verändern."

 

"Trotzdem gibt es in mir einen Rest magischen Denkens, und so stelle ich mir vor, der Brief könnte dich auf irgendeinem verschlungenen Weg erreichen ..." Seite 38


                                23.10.2022

 

"Weder Gefühle noch Moral." Seite 38

 

Ich dachte, ich hätte meine Lieblingsautorin gefunden. Wie kann man derart gefühlskalt über eine Abtreibung im 3. Monat schreiben? Wie kann man so etwas machen? Oder muss man fragen, wie kann man einer Frau 1963 so hohe Hürden auferlegen, dass es zu solch einer illegalen Handlung kommen muss.

Ich bin geschockt über das Ausmaß der Dinge.

"Und das wahre Ziel meines Lebens ist vielleicht einfach dies: dass mein Körper, meine Gefühle und meine Gedanken zu Geschriebenem werden, zu etwas Verständlichem und Allgemeinem also, dass meine Existenz vollkommen im Kopf und im Leben der anderen aufgeht." Seite 57


9 Sterne                       20.10.2022

 

"Sie küsste mich auf die Wangen, schwankte auf der Stelle, konnte kein Wort sagen. Ich glaube, ich werde niemals so schreiben können, als hätte ich meine Tante an jenem Tag nicht getroffen." Seite 19

 

Annie Ernaux schreibt über das Leben ihrer Mutter. Das Buch beginnt mit dem Tod und der Beerdigung. Es ist ein Lebenslauf, geschrieben von der Tochter , eine Mischung aus Biografie, erinnerten Situationen und gelebten Momenten.

 

"Tatsächlich verbringe ich viel Zeit damit, über die Anordnung dessen nachzudenken, was ich sagen will, über die Auswahl und Reihenfolge der Wörter, als gäbe es eine ideale Anordnung, die allein eine Wahrheit über meine Mutter auszudrücken vermag - auch wenn ich nicht weiß, worin diese besteht -, und für mich zählt beim Schreiben nichts anderes, als genau diese Andordnung zu finden." Seite 29


9 Sterne                       16.10.2022

 

"Vielschichtiges Schweigen schlug mir entgegen." Seite 18

 

So wie der Vater von Annie Ernaux müsste jeder Mensch verewigt werden. Das würde ich jedem wünschen.

 

Persönlich, genau, schnörkellos, fast gefühlskalt, auch sich selbst gegenüber...

 

Jetzt möchte ich natürlich unbedingt wissen, wie sie ihre Mutter beschreibt und ihr eigenes Leben.

 

"Sie nahmen ihren Enkel in Beschlag und entschieden alles, was ihn betraf, als wäre ich immer noch ein kleines Mädchen und nicht in der Lage, mich um ein Kind zu kümmern." Seite 46


4 Sterne                       12.10.2022

 

Joachim B.Schmidt soll diese "wahre" Geschichte von einem Schafbauer aus dem Nordwesten Islands erzählt bekommen haben.

 

Glauben wir sie? Natürlich, so kann es passiert sein.

 

"Ein junger Mann, der nichts mehr zu verlieren hat. Ein alter Mann, der alles verloren hat. Eine Freundschaft, die alles verändert."


4 Sterne                       08.10.2022

 

"Normalerweise verdüsterten die Erinnerungen an dich meine Stimmung, doch diese wärmte mich irgendwie." Seite 67

 

Jasmin Schreiber ist selber Sterbebegleiterin, darum schafft sie es so gut, über Trauer und Menschen zu schreiben.

 

"So viel Gefühle auf so wenigen Zentimetern runzeliger Haut!. Ich dachte an meine eigene Leere und wurde neidisch auf die Fülle der Emotionen." Seite 23

 

Der Marianengraben ist über 11 km tief und 2400 km lang.


10 Sterne                    04.10.2022

 

"Aus seinem Treibgut baut er seltsame Gestalten, Wassergeister, Meeresdrachen, Schwemmholzengel, Seegespenster, die die Insel mittlerweile wie ein eigener Stamm bevölkern." Seite 31

 

Menschen kommen unterschiedlich mit ihrem Leben zurecht. Es gibt Glückskinder und es gibt das Schicksal.

 

"An jeder Hand ein Elternteil, an jedem Bein ein Bruder." Seite 120

 

"Die Vögel stört das nicht, sie trauen diesem Land genug, um ihre Nester hier zu bauen, seit sie den schlimmsten ihrer Feinde nicht mehr fürchten müssen. Seit über sechzig Jahren ist die Vogelinsel menschenfrei." Seite 43


10 Sterne                       25.09.2022

 

Ein Roman mit ungeschützter Offenheit als Schutz

 

"Von den Schrecken des Krieges und von der Schönheit der Literatur: Davon erzählt niemand in seiner Generation wortmächtiger und eindringlicher als Ralf Rothmann." Denis Scheck

 

"Ein Roman verkörpert stets einen gewissen Mutwillen, er zwingt das Geschehen in eine Form, die es im Leben selten gibt und die uns in unserer Angst vor dem Traurigen, Schrecklichen oder Chaotischen besänftigen soll. Außerdem lässt die Autorität des Gedruckten schnell vergessen, dass jede Geschichte viele andere ausschließt, so dass ihre Wahrheit meistens eine momentane oder reduzierte ist. Misstrauen bleibt also geboten, denn wie es - die Maler haben es früh erkannt - eigentlich keine Umrisse gibt, kann es auch keinen Anfang und kein Ende einer Geschichte geben." Seite 220


6 Sterne                       19.09.2022

 

Auf der glatten Fassade spiegelte sich der Nachthimmel. Erkennst du es wieder? Seite 93

 

Ein neuartiger medizinischer Eingriff soll Frauen von ihren psychischen Leiden befreien. Doch zu welchem Preis? Welche Nebenwirkungen müssen in Kauf genommen werden?

 

"Wir kannten uns mitterlweile gut genug, um die Anwesenheit der anderen zu spüen, bevor wir das Zimmer betraten." Seite 103


10 Sterne                       13.09.2022

 

"... wie ein Atem hinter dem Atem. Etwas Weißen und Zartgoldenes, das waren die Farben, in denen sie es sah, ..." Seite 64

 

"... warum die Kastanien Rosskastanien heißen. Früher, im Mittelalter oder so, gab es die nur in Asien. Aber als die Türken Europa übefielen, hatten sie immer einen Sack voll dabei, als Medizin für ihre Schlachtrösser. Denn die waren ja wichtig. Wenn die eine Erkältung kriegten oder lahm wurden, gab man ihnen eine Handvoll davon, und weiter ging`s!" Seite 70

 

Jeder Satz ist wichtig und lesenswert. Fast möchte man diesen Roman nicht weiterempfehlen, weil man Angst hat, dass er kritisiert wird.


2 Sterne                       08.09.2022

 

"Du musst deine Gefühle nicht so runterspielen. Das sind keine Kleinigkeiten." Seite 128

 

"In dieser anderen Welt gibt es das nicht, weil da drüben das Zuhause durch die Bewegung ersetzt wurde. Dass es keine Stillstand gibt, wird dort als oberstes Gesetz gefeiert. Es gibt da keine Orte und keine Häuser. Es gibt da keinen Boden und keine Heimat, die dauerhafte Bewegung an sich ist es, die Geborgenheit gibt." Seite 129

 

Bis zuletzt hofft man, dass sich das Lesen gelohnt hat, doch leider vergebens ...


8 Sterne                       01.09.2022

 

"Es war ein goldener Käfer, ein Skarabäus."Seite 83

 

"Es ist, als ob die Düfte sich zu Farben und die Farben zu Bildern zusammensetzen." Seite 138

 

"Mit jedem Taschentuch pflanzte sich eine kleine weiße Welle fort bis hin zur Kapelle. Und noch mehr Theater, dachter er." Seite 95

 

"Es war ein Tag, in dem sich der Frühling konzentrierte: im Blau des Himmels, im frischen Geruch des Wassers, in den Blumen, die jetzt überall an den Fenstern blühten, in der kühlen Brise, die einen vom Fluss ganz leicht anwehte, wenn man die Brücken querte." Seite 141


10 Sterne                       17.08.2022

 

"Es war eine sehr große, schwere, fast exotisch unregelmäßige Birne." Seite 86

 

Wortreich, sehr sensibel und voller Beobachtungen ist dieses intensives Leseerlebnis über zwei Frauen und deren innere Nöte.

 

"Es war wahrscheinlich Heimweh nach dem Ort, wo man eigentlich sein sollte. Nach einem Zuhause, das man noch gar nicht kannte, aber das auf einen wartete." Seite 59

 

"Bürgerliche Dämmerung" Seite 75

"Nautische Dämmerung" Seite 76


8 Sterne                       01.08.2022

 

"Sie singt nur eine einzige Note. Die erste Strophe ist nur eine Note. Ist das nicht Wahnsinn?" Seite 126

 

Es ist ein kunstvoll gewebter Erzählteppich. Mit mehreren Ereignissen spinnt Ewald Arenz  eine bewegende Geschichte um Eltern- und Großelternliebe, Freundschaft und Verlust.

Und immer wieder sind es die Naturbeschreibungen, die mich überzeugen und den Roman sehr gerne lesen lassen.  - 

Samba de uma nota sò / Bossa Nova


8 Sterne                       29.07.2022

 

"So klingt es also, bevor die wichtigen Dinge gesagt werden, dachte ich." Seite 240

 

Beim Lesen werden die eigenen Lebens- und Glaubensgrundsätze berührt.

Familie, Freundschaft, Tod, Zukunft ...

 

"Sebi entzündete die blaue Kerze, für die Weite des Himmels. Meine Mutter grün, für das Leben. Hier redete mein Vater lang, er ließ siebzehn Jahre Revue passieren. Ich wiegte mich im Rhythmus seiner Stimme. Seine Worte zerfielen in Silben, deren Klang den Sprachfluss rhythmisierte, und das war so wohltuend, dass ich hätte wegnicken können, wäre ich nicht als Nächste dran gewesen." Seite 227


10 Sterne                       25.07.2022

 

"Ich habe mich noch nie von einem Tier so angeschaut gefühlt." Seite 18

 

"Ich werde das Gefühl nicht los, dass hinter diesen hellen Edelsteinaugen eine Intelligenz lauert - eine Intelligenz, die mich genauso intensiv erforscht, wie ich den Vogel." Seite 18

 

"Die Wurzeln von uns allen reichen bis tief in die Vergangenheit und bestimmen auf undurchsichtige Weise unsere Gegenwart. Man kann die Vergangenheit nicht einfach kappen. Aber wenn man ein bisschen herumgräbt, kann man vielleicht etwas von ihrer Macht ausgraben, die Wurzeln der Sonnenhitze aussetzen und sie vertrocknen lassen. " Seite 260


8 Sterne                       22.07.2022

 

Luft holen und durch diesen Roman tauchen, obwohl ich manchmal lieber an einigen Stellen länger verweilt hätte. Schade eigentlich ...

 

"Sogar an die Sperrstunde gewöhnten wir uns, die fünfzehn Jahre hindurch galt, weil sie Ehemänner auf Abwegen und rebellische Jugendliche dazu zwang, früh nach Hause zu kommen. Die Kriminalität ging stark zurück. Die Verbrechen wurden vom Staat verübt, aber man konnte durch die Straßen gehen und nachts schlafen, ohne dass man von gewöhnlichen Verbrechern überfallen wurde." Seite 249


6 Sterne                       12.07.2022

 

Zwei junge Menschen mit stark verletzten Seelen versuchen es mit der Liebe.

 

Irgendwie traurig ...

 

"Wir gingen nach Hause und Boris überzeugte mich davon, dass das eben Familie ist: bedingungsloses Festhalten jenseits jeder Idiotie." Seite 70


9 Sterne                       10.07.2022

 

Gute-Laune-Buch

 

Kann man mit 52 Marathon-Läufen in einem Jahr ein Buch füllen? Was ist das für ein wahnsinniges Projekt? Lohnt es sich, das Buch zu lesen?

 

Ja, absolut!

 

"Da ist nichts Natürliches, keine Fantasie, nur waschbetonhafte Brutalität, jammere ich still, während ich in einen Riegel beißen will, der ebenso hart ist wie das Blankeis unter meinen Füßen, und meine Zähne scheitern am Eindringen in den Kohlehydratblock just so wie die neuen Spikes am harten Boden unter mir." Seite 36

 

Und zum Schluss ...

 

"Ich weiß nicht, ob ich irgendwem raten sollte, jede Woche einen Marathon zu laufen - da gibt es gewisse medizinische Gegenargumente. Sich großen, vermeintlich übergroßen Herausforderungen zu stellen, erscheint mir jedoch ein Zeitvertreib zu sein, der das Leben schöner machen kann." Seite 217


10 Sterne                       06.07.2022

 

Mein Vogelherz schlägt für dieses Buch.

 

Eindringlich und ruhig erzählt Enno Janßen über sein Leben als Inselvogt von Memmert. Er schreibt über die Natur, über die Vögel, über die Landschaft, über Wind und Wetter und besonders über das Alleinsein.

 

"Jedes Jahr im März stelle ich mir dieselbe spannende Frage: Wer wird diesmal kommen? Denn es gibt immer Arten, die Memmert nur sporadisch beehrten, die hier mal zur Probe brüten und sich beim nächsten Mal dann doch für weniger turbulente Brutgebiete entscheiden." Seite 52


10 Sterne                       04.07.2022

 

"Fahr und hol ihn," brüllte der Alte. (Der erste Satz)

 

Der ukrainische Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan erhält am 23.10.2022 in der Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Seine nachdenklichen, poetischen und radikalen Texte erzählen, wie Krieg und Zerstörung in die Welt einziehen und die Menschen erschüttern.

 

"Der Fahrer sieht hinter den Geschäften die neue Kirche und bekreuzigt sich mechanisch. Ein Teil der Frauen im Bus genauso. Und schauen diejenigen, die sich nicht bekreuzigen, herausfordernd und herablassend an. So schauen am Strand diejenigen, die bis zum Hals im kalten Wasser stehen, auf  die, die Angst haben, ins Wasser zu gehen." Seite 170


3 Sterne                       23.06.2022

 

"... weil sie mit ihrer Heirat für immer die eigene Familie verloren." Seite 86

 

Dies ist ein Roman über die Unfreiheit von Frauen im modernen China in der ersten Hälfte der neunziger Jahre auf dem Lande in der Provinz Hubei in Mittelchina.

Aber bitte unbedingt das Nachwort des Übersetzers lesen, hier stehen viele wichtige Details.

 

"Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht fragen. Ich wusste, du regst dich auf." Seite 106


6 Sterne                       16.06.2022

 

"Nimm meine Träume und versteck sie sicher. Lass niemand sie finden, der nicht an Wunder glaubt." Seite 250

 

Eine sehr lesenswerte Familiengeschichte ... ich hätte sehr gerne auch noch die Blickrichtungen vom Apotheker, von Anna und von Helena kennengelernt.

 

"Er weiß, dass er auch weiterhin Briefe vom Postamt abholen und auf dem Postplatz in den Bus einsteigen wird, und er weiß auch, dass er um nichts in der Welt auf die wenigen kurzen Augenblicke der Glückseligkeit verzichten wird, die er in seinem Leben gefunden hat." Seite 222


9 Sterne                       04.06.2022

 

Tonmenschen

 

"Das Schöne am Schreiben von Romanen ist, im Gegensatz zum Verfassen von Theaterstücken, die knapp und direkt zur Sache kommen müssen, dass man ausschweifend erzählen darf. " Moritz Rinke

 

Und das ist wunderbar!

 

"Wieder dieses dumpfe Knacken in der Tiefe. Wieder dieses grollende Geräusch, als würde im Bauch eines Schiffes etwas brechen." Seite 353


6 Sterne                       28.05.2022

 

"Aber es ändert doch nichts daran, wer du bist." Seite 316

 

Nach diesem Buch möchte ich unheimlich gerne mal nach Lanzarote und dort die Schönheit der Lava- und Vulkanlandschaft bewundern. Und natürlich werde ich mir Picòn mitbringen.

 

"Sie hatten keine Ahnung von der Anmut der schwarzen Strände, der braunen, rotbraunen, feuerroten, gelbbraunen oder ockerroten und ockerbraunen Vulkane. Manchmal waren sie in der Abendsonne auch plötzlich hellbeige und gelb bis blau oder lila." Seite 13


8 Sterne                       24.05.2022

 

"Es sind nicht unbedingt die Hauptfiguren, die wichtig sind. All jene, die kurz, manchmal nur am Rande erwähnt werden, sie wollen wir nicht vergessen." Seite 152

 

"Es gibt Dinge, die zu uns gehören, ohne dass wir wüssten, woher sie kommen. Und es gibt Entscheidungen, die etwas bedeuten, Wege, die unumkehrbar sind, auch wenn wir nie wissen werden, was von einem Leben und den Generationen vor ihm bleiben wird."


9 Sterne                       21.05.2022

 

Gedankenräume erkunden

 

Es geht um Empfindungen, Sichtweisen, Blickwinkel und Lebensänderungen. Wovon ist alles abhängig?

Wie ein Blick durch ein Kaleidoskop sieht der Leser die Menschen, die gemeinsam in einem Wohnkomplex wohnen.

"Wenn sich etwas erhaben anfühlte, wenn sie in etwas aufging, dann war es die Arbeit selbst, die reine Lust an der Tätigkeit und die Genugtuung, dass sie am Ende des Tages etwas hervorgebracht haben würde, das bestimmt nicht vollkommen, aber auf jeden Fall ganz gut geraten war." Seite 177


6 Sterne                       19.05.2022

 

"Die Ukraine ist eine alleinstehende Mutter, alle wollen mit ihr schlafen, aber geheiratet wird nicht!" Seite 330

 

"Milch ist wichtiger als Blut. Durch die Milch fließt der nationale Code in das Kind und bildet sich seine Identität. Wenn eine Polin ein ukrainisches Kind mit ihrer Milch nährt, wird aus ihm eine Pole, kein Ukrainer. Wir haben das Elend doch hier schon! Unsre ganze Nation hat man mit diesem russischen Milchpulver "Malysch" aufgezogen!" Seite 328

Das ist "starker Tobak" und ergibt bestimmt viel Gesprächsstoff in unserem nächsten Lesekreis.


8 Sterne                       03.05.2022

 

Lust auf Kochen, Teigkneten, Backen, Würzen und leckere Küchendüfte

 

Dies ist der erste Roman von Jacky Durand. Er ist Journalist, Buchautor und Gastrokritiker.

 

Einfühlsam wird eine Landschaft in uns freigelegt.

 

"Die beste Küche ist die Erinnerung - Georges Simenon" Seite 186


4 Sterne                       25.04.2022

 

"Endlich das Schweigen brechen ..." Seite 149

 

"Ümit verdient, dass sie ehrlich zu ihm ist, sie will doch sein Vertrauen, sie will doch, dass er sich stark fühlt bei ihr, geborgen, verstanden. Und doch tut sie das, was schon Generationen von Ablas vor ihr getan haben. Sie tut so, als sei nichts. Vielleicht sind das die Dschinns, die Wahrheiten, die immer da sind, die immer im Raum stehen, ob man will oder nicht, aber die man nicht ausspricht, in der Hoffnung, dass sie einen dann in Ruhe lassen, dass sie im Verborgenen bleiben für immer." Seite 149

Dann wird es aber mal Zeit.


6Sterne                      18.04.2022

 

Was ist schon alles in Kiew passiert?

 

Dieses Buch macht unendlich traurig. Lernen die Menschen aus der Geschichte nichts dazu? Ist ein Menschenleben nichts wert?

 

"Als Kiew im November 1943 befreit wurde, lebte nur noch ein Fünftel der Bevölkerung in der Stadt. Einige waren an der Front, viele auf der Flucht in die Tiefe des Landes, ein großer Teil war ermordet oder nach Deutschland deportiert worden. Wer sollte von Babij Jar erzählen, und wem?" Seite 112

"Wie viele Menschen in dieser Stadt heute wohl noch Jiddisch lesen können? Zwanzig? Verschwinden die Sprachen von selbst? Oder richtet sich die Tafel direkt an Gott?" Seite 113


10 Sterne                       12.04.2022

 

"In Sicherheit ist nur, wer keinen Schmerz mehr fühlt." Seite 159

 

Es ist so bewegend und berührend. Christine Hoffmann spricht mir aus der Seele.

"Flucht war immer Menschenschicksal. Kriegsschicksal. Neu ist, dass wir verstehen, wie lange dieser Fluch wirkt, bis in die dritte Generation, bis ins dritte und vierte Glied, bis er allmählich seine Macht verliert." Seite 56

"Ich werde dieses verfluchte zwanzigst Jahrhundert aus mir herauslaufen, aus uns allen, ich werde alles erinnern und alles vergessen, und am Ende meines Weges werden wir frei sein, heil, wenn ich hier durchkomme, werde ich mich nie mehr umdrehen und zurückschauen, ich werde nur noch nach vorn blicken, ich werde Mandarin lernen und mich bei TikTok anmelden, ich werde fertig sein mit Europa und seiner verfluchten Vergangenheit und nur noch für die Zukunft leben." Seite 159


3 Sterne                       05.04.2022

 

Warum?

 

Ich will nicht spoilern, aber mich stört, dass die Morde und deren Aufklärung im Mittelpunkt stehen. Das ist natürlich typisch für einen Krimi. Ich weiß jetzt wieder, warum ich sie nicht gerne lese.

Für mich muss das Leben im Vordergrund stehen, mit all seinen Schwierigkeiten, Stolpersteinen und Fragen, die es ja wahrlich zur Genüge gibt.


6 Sterne                       01.04.2022

 

"Jeder Mensch sollte ein Anrecht auf genügend Licht haben!" Seite 602

 

Der Roman fängt in den 90iger Jahren in Geogien an und endet 2019 in Brüssel.

Nino Haratischwili erzählt über 4 Frauen, deren Träume und deren Schicksale. Welche Menschen haben es am leichtesten im Leben? Diejenige, die am lockersten und am lautesten sind, diejenigen, die nicht viel zögern und zweifeln?

"Nun lerne ich in der Kuppel mit dem mystischen Licht fliegen und strengte mich an, mir jede Hoffnung auszutreiben, ab es gelang mir nicht, als wäre sie ein geheimes Organ in mir, nicht minder entscheidend als Herz oder Lunge." Seite 324


10 Sterne                       03.03.2022

 

"Das schwere und das leichte Herz." Seite 199

 

Was für ein trauriges und schweres Thema, was für ein wunderbares und liebevolles Buch ...

 

"Nur wenn die Waage in der Balance blieb, wenn das Herz so leicht war wie die Feder, wurden die Reisenden von Osiris, dem Totengott, duchgewunken. Erst dann konnten sie wiedergeboren werden und eintreten in das ewige Leben." Seite 199

 

"Aber vielleicht ist es ja so, dass die Fragen wichtiger sind als die Antworten." Seite 204


10 Sterne                       27.02.2022

 

"Sie erfuhr von den Feiern immer nur von den Nachbarn. Plötzlich gab es sie doch." Seite 167

 

Andrea Sawatzki erzählt die Geschichte ihrer Kindheit. Dieser autofiktionale Roman liest sich wie "Die Asche meiner Mutter" von Frank McCourts (1998).

 

"Für meine Mutter begann die große Zeit des Wartens. Sie drängte nicht. Sie forderte nichts. Sie verlangte keine finanzielle Unterstützung. Sie war stolz. Aber sie wartete. Bis zu dem Tag, an dem der Platz neben ihm frei werden würde. Als ich acht Jahr alt war, ging ihr Wunsch in Erfüllung." Seite 34


6 Sterne                       26.02.2022

 

"Als das Segel unten war, auf einer Seite zusammengerafft, trat plötzlich Ruhe ein." Seite 253

 

Der russische Angriff auf die Ukraine ist so erschütternd und traurig, dagegen ist dieser Roman über Menschen eines holsteinisches Dorf vor 100 Jahren klein und bescheiden. Es geht um Schicksale, um Lebenswege und um Krisen. Kann man sich 1928 politisch raushalten?

Gleichzeitig geht es um das Leben auf einem Bauernhof und in der Natur.

"Da sind die Leute durch die Gegend gezogen, um Äste in der richtigen Form zu finden. Damit sie die Spanten dünner bauen konnten. Gedämpfte sind nämlich nicht so stabil." Seite 252

Vielleicht mache ich doch noch einen Segelschein.


4 Sterne                       13.02.2022

 

"Hier bin ich. Und da liegt er. Gibt es jemanden auf der Welt, der mir mehr zu sagen hätte als dieser Verstorbene:"" Seite 90

 

Ich fühle mich nach dem Lesen dieses Romans ein bisschen veräppelt, da ich nicht nachvollziehen kann, wie man einen Mord gestehen kann, den man nicht begangen hat. Wie kann das geschehen, wenn man voll zurechnungsfähig ist? Das bleibt mir unklar.

Dass allerdings die 9jährige Tochter traumatisiert zurückbleibt und es deshalb Jahre Später zu einem gewaltsamen Racheakt kommt, kann ich zum Teil sehr gut verstehen. Trotzdem ist diese Lösung natürlich sehr tragisch und schlimm und hätte in einer "guten Welt" verhindert werden müssen/können. Dafür arbeiten kompetente Psychologen und Therapeuten.


6 Sterne                       04.02.2022

 

"Der Schriftsteller auf Tournee, da ist das Gesicht, das er den Leuten zeigt, und da ist das Gesicht, das ihn um Mitternacht im Badezimmerspiegel anstarrt." Seite 231

 

Ehrlich, spannend, ausdrucksstark, humorvoll, nachdenklich ... gerade wenn man Herman Koch schon einmal live erlebt und gehört hat, liest man das Buch anders und irgendwie intensiver.

 

"Eine Stadt liest ein Buch in Wesel" / Im Januar 2019 haben wir gemeinsam "Angerichtet" von Herman Koch gelesen. Das war schon eine tolle Aktion.


7 Sterne                       29.01.2022

 

"... doch gebe es eine Hierachie der Wahrheiten." Seite 59

 

Ist es die Familiengeschichte von Astrid Seeberger oder ein Roman aus dem Leben von ihr?

Egal, ich folge den Erinnerungen und den Gedanken sehr gerne. Sie schreibt über das Erleben von Zeitgeschichte (Flucht aus Ostpreußen nach dem 2. Weltkrieg, Mauerbau, ...), aber auch über persönliche Dinge, die für die Familie eine Bedeutung haben.

"Es nützte nichts zu wissen, dass Eis bei starkem Temperturwechsel reißen kann, dass Risse, die das Eis durchziehen, winzig kleine Risse, das Eis zum Vibrieren bringen, wodurch Töne entstehen." Seite 62


6 Sterne                       23.01.2022

 

"Es gibt kein Ziel, es gibt jenen Sehnsuchts-Ort nicht, auf den unser Leben zusteuert, auch wenn der Wunsch anzukommen noch so verlockend sein mag." Seite 213

 

20 Jahre war die Ich-Erzählerin nicht mehr in Rumänien. Dort ist sie aufgewachsen. Doch nun zum Begräbnis ihrer Großmutter kehrt sie zurück.

Wie fühlen die Menschen, wie verläuft ihr Leben, nachdem sie in ein anderes Land geflüchtet sind, egal aus welchen Gründen? Es geht um Heimat, um Fremdheit und um Sehnsucht.

"Doch zumeist beschäftigen uns unsere Ängste statt unsere Wünsche. Eigentlich sind beide das Gleiche, nur einmal positiv, einmal negativ formuliert." Seite 212


8 Sterne                       11.01.2022

 

"Diese erstaunliche Fähigkeit, die wir Menschen besitzen, füreinander Schutzräume zu errichten, mitten in aller Bosheit, mitten in Krieg und Unterdrückung." Seite 188

 

Warum nur ist für die Nichte, die Erzählerin, die Suche nach dem verschollenen Onkel so wichtig?

Ist es eine Erkundung der Schnittstellen von Herkunft und Wunschdenken?

 

"Der Glockenklang sei unbeschreiblich. Man könne nur dessen Wirkung schildern. Wie damals, als er mit einem kleinen Flugzeug über ein Dorf flog, gerade als die Kirchenglocken läuteten. Der Klang der Glocken erfüllte alles, die Erde unten und den Himmel oben, auch ihn selbt. Er bekam Lust, die Flugzeugmotoren abzustellen ..." Seite 63


10 Sterne                       05.01.2022

 

"Die Hoffnung aufs Glücklichsein ist nichts anderes als das Glück selbst." Seite 163

 

Selten trifft man auf ein so gutes Buch. Wunderbares Cover, toller Titel, eindrucksvolle Gefühle ...

 

"Ich erfuhr, dass das Abwesende mehr Gewicht hatte, als das, was da ist. Irgendwo im Inneren ist ein Leck, etwas, das die Freude aufnimmt und schmälert, ehe man sie mit beiden Händen festhalten kann. Jede Handlung geschieht im Verhältnis zur schmerzenden Stelle. Das Glück rückt fort, als verfehle es einen beständig um wenige Zentimeter. Nur das Abwesende ist niemals fort. Es verblasst manchmal, das Sehnen lässt nach, doch es findet seinen Weg zurück, als sei es mit uns verbunden. Etwas fehlt, und jede Beschwichtigung, jede Verharmlosung ist im Grunde eine unerträgliche Lüge. " Seite 159


3 Sterne                       01.01.2022

 

"Schnee, Wind, Sonne" Seite 116

 

Was habe ich mir erhofft?

Ganz klar, viel bessere Antworten auf die wichtigen Fragen des Lebens.

 

"Der Sherpa lachte. Zweimal hatte er schon den Everest bestiegen, trotzdem war es unmöglich, auch nur eine philosophische Sentenz aus ihm herauszubekommen. Wenn man mit ihm sprach, schien alles auf der Welt einfach nur zu existieren: Eimer, Lappen, Wind, Sonne, Schnee." Seite 97